Kintsugi – Modell für den Umgang mit Brüchen im Leben

Viele Menschen verstecken ihre Misserfolge und schmerzhaften Erfahrungen. Vor allem in der Bewerbung versuchen sie Ihre Karriere als Erfolgsgeschichte ohne Brüche darzustellen. Und dies, obwohl allen klar sein dürfte, dass bei sorglosem Segeln durchs Leben bei allzeit optimaler Witterung keine persönliche Entwicklung stattfände. Erfahren Sie, was Sie von der traditionellen japanischen Reparaturmethode Kintsugi über den Umgang mit Brüchen im Leben lernen können.

Peter Näf

Daniel Pink beschreibt in seinem Buch «Die Kraft der Reue», wie ein japanischer Shogun im 15. Jahrhundert unbeabsichtigt eine neue Keramik – Kunstform beförderte: Eine wertvolle chinesische Teeschale entglitt ihm, fiel zu Boden und zerbrach in mehrere Teile. Er sandte die Scherben zurück nach China zur Reparatur. Als er die geflickte Schale Monate später zurückerhielt, war er enttäuscht vom Resultat: Sperrige Metallklammern hielten die Schale zusammen – kein schöner Anblick.

Er war sicher, dass es eine bessere Methode geben müsste, die Schale zu reparieren und wandte sich an lokale Kunsthandwerker. Diese schleiften die Schnittstellen sorgfältig ab und klebten die Teile mit einer Mischung aus Lack und Gold wieder zusammen. Es ging ihnen nicht da-rum, den ursprünglichen Zustand der Schale wiederherzustellen, sondern sie in etwas Neues und Besseres zu verwandeln.

Es gibt kein Zurück

Auch wir würden gut daran tun, nach einem Bruch in unserem Leben etwas sorgsamer mit den Scherben umzugehen. Neigen wir nicht oft dazu, nach einem Misserfolg oder einer belastenden Erfahrung den Zustand vor dem Ereignis wiederherstellen zu wollen, als wäre nichts passiert?

Wie sich die Schale nicht wieder heil machen lässt, können wir das Rad des Lebens nicht zurückzudrehen. Und da wir Menschen vor allem in der Krise lernen, würden wir uns schlecht entwickeln, wenn uns nicht gelegentlich kleinere und grössere Probleme aus unserer Komfortzone holten. In der Rückschau stellen sich Krisenzeiten oft als ein Segen dar. Wir würden die mit zunehmender Lebenspraxis unvermeidliche Entwicklung nicht missen wollen.

Seien Sie stolz auf Ihre Bruchstellen

Auch wenn das Älter-Werden nicht hoch im Kurs steht und viele Menschen gerne ewig jung und unversehrt blieben: Unsere unausweichlichen Brüche im Leben lassen sich nicht unsichtbar machen, auch wenn wir uns noch so sehr bemühen, sie zu verschleiern, zu übertünchen oder glatt zu ziehen. Tragen wir daher mit Stolz unsere Schrammen, Narben und Falten – im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Schliesslich haben sie uns zu dem gemacht, wer wir heute sind; wir haben sie uns redlich verdient.

Gemäss Daniel Pink kam im 17. Jahrhundert Kintsugi so in Mode, dass die Menschen ihre Teeschalen absichtlich zerbrachen, um sie durch die Reparatur aufzuwerten. So weit brauchen wir die Analogie mit unserem Leben nicht zu treiben – dieses beschert uns von sich aus genügend Brüche, um richtig wertvoll zu werden.

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