Doppelte Arbeit für Recruiter und Bewerbende

In Rekrutierungs- resp. Bewerbungsgesprächen spielen wie in jeder zwischenmenschlichen Kommunikation immer auch subtile Machtverhältnisse eine Rolle. Diese gilt es für Recruiter und Bewerbende im Auge zu behalten, ansonsten kann es zu Fehlentscheidungen kommen. Die Machtverhältnisse verändern sich je nach Situation auf dem Arbeitsmarkt, was nicht immer offensichtlich ist oder nicht früh genug wahrgenommen wird.

Peter Näf

Als Headhunter in der Finanzdienstleistungsbranche hatte ich verschiedene Phasen auf dem Arbeitsmarkt erlebt: Es gab Zeiten eines ausgetrockneten Arbeitsmarktes, in denen ich für meine Unternehmenskunden händeringend nach passenden Kandidatinnen und Kandidaten suchte. In anderen Perioden hatte ich grösste Mühe, für ausgezeichnete Bewerbende eine gute Stelle zu finden. Die unterschiedlichen Marktphasen beeinflussten auch das Kräfteverhältnis in der Verhandlung zwischen Arbeitgeberinnen und Arbeitnehmern.

Die Macht der Arbeitgeber

In Phasen mit wenig Auswahl für Stellensuchende waren die Gespräche anspruchsvoll: Einerseits prüfte ich für meine Unternehmenskunden, ob Bewerbende die Stellenanforderungen erfüllten und von der Persönlichkeit ins Unternehmen passten. Da sich viele Bewerbende bereits vor unserem Gespräch für die Stelle entschieden hatten, zeigten sie sich im Gespräch wenig kritisch in Bezug auf Stelle und Umfeld. Sie stellten keine Fragen. Eine Stellenbesetzung ist aber nur erfolgreich ist, wenn am Schluss beide Seiten zufrieden sind. Ich musste daher als Vermittler zusätzlich zur Prüfung der Bewerbenden auch noch einschätzen, ob Stelle und Unternehmen für diese interessant sind. Wenn nicht, würden sie nicht lange im Unternehmen bleiben. Ich musste also die Arbeit für beide Marktseiten tun.

Die Machtverhältnisse können ändern

Dass sich die Zeiten zumindest für gewisse Bewerbende geändert haben, zeigte sich kürzlich bei einem jungen Coachee mit einem spezialisierten Profil: Ich trainierte ihn für ein Bewerbungsgespräch, welches zwischen unseren beiden Sitzungen stattfand. Im zweiten Meeting erzählte er mir enttäuscht, dass Recruiter und Hiring Manager praktisch keine Fragen gestellt hätten. Sie hätten stattdessen die Position und das Umfeld sehr positiv dargestellt. Es ging es ihnen anscheinend darum, eine wichtige Stellen-Vakanz möglichst rasch zu besetzen.

Dies war die entgegengesetzte Situation zu der vorher geschilderten: die Macht war auf Bewerberseite. Ich trainierte meinen Kunden für die weiteren Interviewrunden daraufhin herauszufinden, ob er aus Sicht des Unternehmens ein geeigneter Kandidat sei. Falls nicht, könnte er nach Stellenantritt mit Erwartungen konfrontiert werden, die im Bewerbungsprozess nicht zur Sprache kamen. Jetzt musste er die Arbeit für beide Seiten tun.

Genau wie ich früher die Qualität von unkritischen Bewerbenden hinterfragte, war auch mein Kunde irritiert. Er fragte sich, ob die Stelle und das Unternehmen wirklich so großartig wie geschildert seien, wenn die Gesprächspartner im Job-Interview praktisch keine Fragen stellten.

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