Wer ist die kompetenteste Person in der Runde? Möglicherweise Sie!

Stellensuchende fallen oft in früheres Bewerbungsverhalten zurück. Dies umso stärker, je länger die letzte Bewerbung zurückliegt. Die Machtverhältnisse im Job-Interview sowie die Erwartungen, welche die Unternehmensseite an sie stellt, können sich in der Zwischenzeit aber stark verändert haben, ohne dass sich die Bewerbenden dessen bewusst sind.

Peter Näf

Wenn sich junge und unerfahrene Stellensuchende bewerben, ist das Machtverhältnis im Bewerbungsgespräch klar: Das Unternehmen ist in der stärkeren Position und kann oft unter einer grossen Anzahl von Kandidatinnen und Kandidaten aussuchen. Da Recruiter und Hiring Managern älter sind, besteht zudem ein grosser Erfahrungs- und Kompetenzunterschied.

Dieses Verhältnis verändert sich mit zunehmender Berufspraxis der Bewerbenden. Viele ältere Stellensuchende haben aber immer noch das alte Bild der Rekrutierung im Kopf, wonach ausschliesslich die Arbeitgeberseite aussucht.

Erkennen der eigenen Kompetenz

Ein Kunde war seit vielen Jahren im Verkauf von Investitionsgütern tätig. Er arbeitete seit wenigen Monaten bei einem Unternehmen mit dem Ziel, den vernachlässigten Verkauf wieder in Schwung zu bringen. Das Marktumfeld erwies sich als schwieriger als erwartet, die Unternehmenszahlen enttäuschten und das Unternehmen brauchte dringend Neugeschäft. Der CEO übte mit kumpelhaften Bemerkungen, dass sie in den nächsten Monaten gemeinsam den Markt «rocken» würden, subtilen Druck auf meinen Kunden aus. Die von ihm daraufhin initiierten Gespräche über die gegenseitigen Erwartungen veranlassten ihn zu kündigen. Was ist schiefgelaufen?

Gefährlicher Kompetenz-Verdacht

Es bestanden unterschiedliche Vorstellungen über die kurzfristigen Erfolgsaussichten. Dabei hatte mein Kunde die Situation realistisch eingeschätzt: Er wusste, dass nach monatelanger Untätigkeit an der Verkaufsfront zuerst eine neue Verkaufspipeline aufgebaut werden musste. Da sich bei Kunden Investitionsentscheide oft über mehrere Monate hinziehen, war nicht mit raschen Erfolgen zu rechnen.

Ich fragte ihn, inwieweit er dieses Thema in den Job-Interviews angesprochen und Erwartungsmanagement betrieben habe. Obwohl die Frage thematisiert wurde, erkannte er, dass er zu wenig deutlich gemacht hatte, was er für kurzfristig erreichbar halte. Aufgrund eines Kompetenz-Verdachts bei seinen Gesprächspartnern zum eigenen Kundenmarkt hat er thematisch zu wenig Führung übernommen. Dies wäre seine Aufgabe gewesen, denn er war in seinem Fachbereich die kompetenteste Person in allen Gesprächsrunden der Rekrutierung.

Überlegen Sie sich in jedem Job-Interview, wie viel Ihre Ansprechpartner in Ihrem Spezialgebiet wissen. Erwarten Sie nicht, dass sie ihr Unwissen offenlegen; es wird selten so viel geblufft wie in Job-Interviews – auf beiden Seiten. Hegen Sie im Zweifelsfalle einen Inkompetenz-Verdacht und übernehmen Sie thematisch die Führung.

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