Voller Stolz teilte mir ein Kunde mit, er hätte an einem Tag fünf Bewerbungen verschickt; ermöglicht allein dadurch, dass er sich die Motivationsschreiben von Chat GPT habe verfassen lassen. In den 25 Jahren, in denen ich mich mit Bewerbung beschäftigte, beflügelte jede technologische Innovation die Phantasie von Bewerbenden dahingehend, sie könnten ihre Bewerbungsaktivitäten delegieren. Wird es dieses Mal gelingen? Und wenn ja – wäre es überhaupt wünschenswert?
Ich habe mir die fünf Schreiben zu Gemüte geführt und war erstaunt, wie vertraut sie sich anhörten. Sie waren voll von schön formulierten Selbstbewertungen, Großartigkeiten, Allgemeinplätzen und viel «Bewerbungs-Sprech», natürlich alles so unpersönlich, dass sie sowohl für unterschiedliche Stellen als auch von unterschiedlichen Bewerbenden hätten verfasst sein können. Sie krankten also genau am Gleichen, wie ein Großteil der von realen Bewerbenden verfassten Motivationsschreiben. Wie ist das zu erklären?
Mittelmaß reicht nicht aus
Offensichtlich schafft es Chat GPT, ein durchschnittliches Bewerbungsschreiben zu erstellen, welches es sich durch die Analyse von Texten im Netz zusammenstellt. Da viele Motivationsschreiben von ungenügender Qualität sind, kann auch der Durchschnitt daraus nur mangelhaft sein. Wer also durchschnittliche – das heißt nicht genügende – Motivationsschreiben verfassen möchte, kann sich den Aufwand möglicherweise sparen. Das schafft Chat GPT anscheinend schneller und die eingesparte Zeit kann anderweitig eingesetzt werden. Ein negativer Einfluss auf den Bewerbungserfolg müsste allenfalls in Kauf genommen werden.
Setzen Sie allerdings auf Qualität, und das rate ich allen Fach- und Führungskräften, müssen Sie weiterhin die Mühe des Formulierens auf sich nehmen. Diesbezüglich hat sich in den letzten 25 Jahren nicht viel verändert und ich erwarte auch für die nächsten Jahre keine umwälzenden Neuerungen.
Nicht alles verändert sich!
Auch wenn Fachkräftemangel herrscht, suchen Unternehmen gute Mitarbeitende, um sich in einem von großer Konkurrenz geprägten Umfeld erfolgreich zu bewegen. Und dabei sollte die Bewerbung als Arbeitsprobe in der Rekrutierung nicht unterschätzt werden.
Ein gutes Motivationsschreiben zeigt, dass Bewerbende sich mit der Stelle auseinandergesetzt haben, ausdrücken können, was sie daran interessiert und was sie dafür mitbringen. Eine alte NZZ-Werbung bringt es auf den Punkt: «Arbeit an der Sprache ist Arbeit am Gedanken» – und das ist aufwändig. Daher rate ich Ihnen zu folgendem Vorgehen: Telefonieren Sie viel vor dem Bewerben; dadurch bewerben Sie sich automatisch seltener. Und bei den verbleibenden Bewerbungen geben Sie sich entsprechend viel Mühe. Beim Bewerben kommt Qualität definitiv vor Quantität!
Die Zeit von Stellensuche und Bewerbung ist eine Chance zu intensiver Auseinandersetzung mit sich selbst, wenn Sie sich darauf einlassen. Sie gewinnen mehr Klarheit über Ihre Karriereziele und Bedürfnisse. Zudem ist jedes Schreiben eine Übung in Kommunikation und Selbstmarketing. Und Hand aufs Herz: Wir können nie gut genug kommunizieren!
So viel zu tun, so wenig Zeit – die Kunst besteht darin, sinnvoll zu delegieren. Daher bügle ich meine Hemden nicht selber – aber Selbsterkenntnis und Selbstmarketing sind in meiner Ich-AG nicht delegierbare Chefsache!