Warum ich keine Persönlichkeitstests einsetze

Viele Unternehmen setzen Persönlichkeitstests nicht nur in der Rekrutierung, sondern auch in der Personalentwicklung ein. Das Gleiche tun Karriere-Coaches in Standortbestimmungen. Macht es Sinn, die Selbsterkenntnis von Menschen einem Test anzuvertrauen? In den letzten Jahren nehme ich bei meinen Kundinnen und Kunden vermehrt Vorbehalte gegenüber Persönlichkeitstests wahr – eine positive Entwicklung, zumal künstliche Intelligenz der Testindustrie neuen Schub verleihen dürfte.

Peter Näf

Persönlichkeitstests erzielen in Studien eine gute Validität und machen anscheinend recht verlässliche Aussagen über die Persönlichkeit eines Menschen. Was mich allerdings immer wieder erschreckt ist, wie unzulässig sie interpretiert werden. Schon als Headhunter hörte ich oft Aussagen wie: «Der Kandidat ist ein typischer Blauer». Solche Stereotypisierung finde ich absolut unzulässig

Es lebe das Individuum

Die Tests sind schwieriger auszuwerten, als es die spielerisch anmutende, farbige Aufmachung sowie die eingängig beschriebenen Charaktertypen vermuten lassen. Ein Wochenend-Seminar zur Zertifizierung dürfte für eine glaubwürdige Interpretation nicht genügen.

Die Tests teilen Probandinnen und Probanden in eine überschaubare Anzahl von Typen ein, die der Individualität der Menschen sowie ihrer Entwicklungsfähigkeit nicht gerecht werden. Unglücklicherweise werden die unterschiedlichen Typen oft auch noch bestimmten Berufsfeldern zugeteilt in der Art von: «Rot – und nur rot – gehört in die Führung».

Die Tücken von externen Gutachten für eine berufliche Standortbestimmung habe ich in jungen Jahren selbst erlebt. Meine Karriere war an einem toten Punkt angelangt und ich wusste nicht weiter. Ich liess mir für meine berufliche Neuorientierung ein graphologisches Gutachten zu meinen Neigungen und Talenten erstellen. Dies war damals ein verbreitetes Instrument, bevor es von Persönlichkeitstests verdrängt wurde.

Selbsterkenntnis ist nicht delegierbar

Das Ergebnis des Gutachtens überraschte mich und ich konnte mich darin nur begrenzt wiedererkennen. Ein Teil der Charakterisierung war mir bewusst und damit kein Erkenntnisgewinn. Viele Aussagen aber waren neu und ich konnte sie nicht mit mir in Einklang bringen. Was nun? Es kam für mich nicht in Frage, meine berufliche Entwicklung in eine Richtung zu lenken, die mir eine Persönlichkeitsanalyse von Dritten empfahl.

Also überprüfte ich die Aussagen in der Diskussion mit Familie und Freunden. Dabei überzeugten mich nicht deren Feedbacks – schliesslich waren diese wieder Fremdbilder – sondern die konkreten Beispiele, die sie mir zur Illustration nannten. In diesen persönlichen Erlebnissen konnte ich schliesslich meine Neigungen und Talente erkennen.

Warum also einen teuren Persönlichkeitstest machen, wenn ich die Resultate ohnehin durch eigene Beobachtung und Reflektion validieren muss? Ich lasse daher die Tests weg und gehe direkt in die Selbstbeobachtung, denn Selbsterkenntnis ist ohnehin nicht delegierbar.

#standortbestimmung #karriere #selbstbewusstsein