Bedeutet beruflicher Aufstieg immer mehr Stress?

Viele Menschen fürchten den beruflichen Aufstieg in der Erwartung, dass die Belastung eine Stufe höher zwangsläufig grösser sei. Wenn sie sich in der aktuellen Position überfordert fühlen, neigen sie sogar dazu, sich nach unten zu bewerben. Stimmt die Annahme, dass sich die Belastung in jedem Fall parallel mit der Hierarchiestufe erhöht? Ich habe meine Zweifel.

Peter Näf

Die Hypothesen sind weit verbreitet, dass mehr Arbeit mehr Stress bedeute und dass Arbeit auf höherer hierarchischer Stufe per se anstrengender sei. Dabei stossen Mitarbeitende meist nicht wegen der Menge der Arbeit an ihre Grenzen. Häufigere Gründe sind, dass sie ihre Arbeit als unbefriedigend und sinnlos empfinden oder sie nicht ihren Neigungen und Anlagen entspricht. Und vor allem leiden Mitarbeitende, wenn sie sich fremd-gesteuert fühlen, ihre Zeitautonomie verlieren und nicht in ihrem persönlichen Modus arbeiten können. Dass die Arbeit eine Stufe höher sogar einfacher sein könnte, zeigt folgendes Beispiel:

Machen Sie schon den Job eine Stufe höher?

Eine Kundin arbeitete in der Industrie mit einer umfassenden Verantwortung für einen Geschäftsbereich. Sie entwickelte sich erfolgreich weiter und das Unternehmen hatte ihr die nächsthöhere Stelle angeboten, was sie bisher ablehnte.

In der Standortbestimmung erzählte sie mir, dass sie unter der dauernden Verfügbarkeit litt, die Vorgesetzte von ihr erwarteten. Auch hatte sie neben ihrem umfassenden Aufgabenbereich immer wieder Initiativen angestossen, um die Arbeit für sich und ihr Team zu erleichtern und den Geschäftsbereich weiterzuentwickeln. Ich äusserte den Verdacht, dass diese Initiativen im Verantwortungsbereich ihrer Vorgesetzten gelegen hätten, was sie bestätigte. Sie hatte also einen Teil der Aufgaben der nächsthöheren Hierarchie-Stufe bereits freiwillig übernommen. Dies beobachte ich häufig bei Coachees, die sich den nächsten beruflichen Schritt nicht zutrauen. Der Grund für die aktuelle Überbelastung meiner Kundin war also nicht ihr aktuelles Pflichtenheft, sondern die inoffizielle Mehrarbeit, die sie aus einer erschwerten Position heraus bewältigte.

Boreouts belasten gleich wie Burnouts

Ich vermutete daher, dass ihr Berufsleben einfacher würde, wenn sie bei der nächsten sich bietenden Chance die nächsthöhere Position übernähme, anstatt die Nachlässigkeiten ihrer Vorgesetzten aus der tieferen Position zu kompensieren. Sie unterschätzte die Möglichkeit, eine Stufe höher ihr Umfeld gemäss ihren Vorstellungen zu gestalten, was ihr die Arbeit erleichtern würde. Sie war zum Beispiel überzeugt davon, dass durch Verbesserung der Organisation Mitarbeitende nicht in der Freizeit erreichbar sein müssten.

Ob die Stufe höher meine Kundin mehr beanspruchen würde, hängt also davon ab, was die Aufgaben konkret erfordern und inwieweit sie ihren Talenten und Neigungen entsprechen.

Von der Idee, sich nach unten zu bewerben, ist wegen der Gefahr der Unterforderung abzuraten. Diese ist genauso stressig ist wie Überforderung. Ich schätze, dass Boreouts ein ähnlich grosses Problem in der heutigen Arbeitswelt darstellen wie Burnouts.

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