Auswahl von Bewerbenden aufgrund der Noten – im Ernst?

Schon als Personalberater vor über 20 Jahren war ich erstaunt über den Stellenwert von Noten bei der Auswahl von Graduates. Eine Verbindung von guten Noten zu beruflichem Erfolg konnte meines Wissens bisher wissenschaftlich nicht hergestellt werden. Diese Rekrutierungspraxis benachteiligt Menschen mit ungewöhnlichen Lebensläufen und dies nicht nur zum Nachteil der betroffenen Bewerbenden, sondern auch der Unternehmen.

Peter Näf

Anscheinend hat sich an dieser Situation nicht viel geändert, wie das folgende Beispiel zeigt: Vor einiger Zeit kam ein junger Mann kurze Zeit vor seinem Fachhochschulabschluss zu mir ins Bewerbungscoaching. Er hatte Mühe, eine Einstiegsstelle in seinem bevorzugten Bereich zu erhalten. Zwei Mal haben Recruiter ihm abgesagt mit der Begründung, sie hätten einen Bewerber mit besseren Noten bevorzugt. Seine Noten waren durchschnittlich, aber nicht schlecht.

Es gibt Berufe, bei denen Noten relevant sein können: Forschungsnahe oder quantitativ-analytische Aufgaben erfordern gute akademische Leistungen in bestimmten Fächern. Wobei Unternehmen diese Fähigkeiten meist im Rekrutierungsprozess nochmals prüfen, da die Leistungs-Bewertungen verschiedener Ausbildungsinstitute nicht ohne weiteres vergleichbar sind.

Auf das Gesamtbild kommt es an

Für die betriebswirtschaftlichen Funktionen, für die sich mein Kunde bewarb, hatten Noten nicht diesen Stellenwert. Erstaunt hat mich die Ablehnung vor allem deshalb, weil seine sonstigen Qualitäten im Lebenslauf ersichtlich gewesen wären, wenn Recruiter genau hingeschaut hätten.

Kurz zu seinem Hintergrund: Er hatte eine Berufslehre abgeschlossen und anschliessend im Lehrbetrieb weitergearbeitet; bereits damals in einer verantwortungsvollen Position. Dann hat er die einjährige Berufsmaturitätsausbildung gemacht und – obwohl Vollzeit – daneben weitergearbeitet. Im Betriebswirtschaftsstudium an der Fachhochschule zeigte er mit Fächerwahl und Studienarbeiten bereits sein Interesse am Bereich, in den er nach dem Studium einsteigen wollte. Das Studium war wiederum Vollzeit; trotzdem arbeitete er daneben zu 40% bei einem Finanzdienstleister in der Kundenberatung. Sein Zeugnis bestätigt seine ausgeprägten sozialen Fähigkeiten, die auch im persönlichen Kontakt offensichtlich waren. Zudem war er etwa eineinhalb Jahre im Militär und bekleidete den Rang eines Oberleutnants. Und ja – was noch wichtig ist zu wissen: Er war gerade mal 25 Jahre alt.

Seien Sie stolz auf Ihren Werdegang!

Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass neben einer guten Ausbildung für beruflichen Erfolg bestimmte persönliche Fähigkeiten wichtig seien. Mein Kunde hat diese schon in jungen Jahren unter Beweis gestellt: Einen solchen Lebenslauf kann nur vorweisen, wer zumindest leistungsbereit, belastbar, zielorientiert, ehrgeizig und gut organisiert ist.

Schockiert hat mich die Wirkung der Ablehnung auf meinen Kunden: Er hatte das Gefühl, mit seinem Werdegang stimme etwas nicht, er hätte in seiner bisherigen Karriere die falschen Entscheidungen getroffen und mehr in seine Noten investieren müssen. Falls Sie einen ähnlichen Hintergrund haben, rate ich Ihnen: Zweifeln Sie bitte nicht an sich, lassen Sie sich nichts einreden und seien Sie stolz auf das, was Sie erreicht haben. Ich bin nicht der Einzige, der solche Werdegänge als das einschätzt was sie sind: Herausragend.

#bewerbung #karriere #standortbestimmung