Ghosting in Rekrutierung und Bewerbung

Was ist nur los auf dem Arbeitsmarkt? Anscheinend hat die Unsitte aus der Welt des Online-Datings, bei der Menschen nach längeren Chats sich plötzlich in Luft auflösen, die Arbeitswelt erreicht. Und dabei betrifft dieses Phänomen beide Seiten: Unternehmen und Bewerbende. Mehr Respekt in der Arbeitswelt scheint mir dringend nötig – und zwar von allen Marktteilnehmenden.

Peter Näf

Kürzlich schilderte mir eine Kundin, die ich im Rahmen eines Outplacements berate, von Ihren Erfahrungen: Sie ist eine junge, hoch qualifizierte Bewerberin mit einem gesuchten technischen Hintergrund. Sie hatte in den vergangenen Wochen unter anderen mit drei Unternehmen Bewerbungsgespräche geführt; bei zweien sogar in der zweiten Interviewrunde. Die Gespräche seien allesamt gut verlaufen. Am Ende aller Meetings hätten die Recruiter konkrete Zeitangaben gemacht, bis wann meine Kundin eine Rückmeldung zum weiteren Vorgehen erhalten würde.

Verbindlichkeit ist eine Form von Respekt

Keines der Unternehmen hat sich an ihre eigenen Zusagen gehalten und meine Kundin hat bei allen dreien einige Zeit später nachgefragt. Wieder nannten die Recruiter Daten, bis wann sie Bescheid erhalte – erneute Fehlanzeige. Zwei der Unternehmen haben nach neuerlichen Kontaktaufnahmen ihrerseits nichts mehr von sich hören lassen.

Was so ein Verhalten von Unternehmen mit Bewerbenden macht, kann nachvollziehen, wer schon mal auf Stellensuche war und die eigene Verletzlichkeit in dieser Situation kennt.

Aus eigener Erfahrung als Personalberater und Headhunter weiss ich um die vielen möglichen Gründe, warum eine Rekrutierung ins Stocken geraten kann und die Schwierigkeit, dazu nicht immer transparent sein zu können. Aber es gehört zum Handwerkszeug von Recruitern, solche Situationen kommunikativ aufzufangen.

Ghosting auf Bewerberseite

Auf Kandidatenseite sieht es ähnlich aus: Recruiter schildern mir, dass Bewerbende unentschuldigt nicht zu vereinbarten Interviews erscheinen. Es kommt sogar vor, dass sie nach Vertragsunterzeichnung ohne Bescheid zu geben am ersten Arbeitstag nicht auftauchen und unauffindbar bleiben. Und es handelt sich auch da um ein Phänomen, das immer häufiger auftritt und zu einem Problem für Unternehmen werden kann.

Man muss sich nur einmal vorstellen, wie viele Ressourcen verschwendet werden, wenn Recruiter oft mehrere interne Gesprächspartner für Interviews aufbieten, die dann nicht stattfinden. Von den Problemen ganz zu schweigen, wenn Unternehmen eine Stelle nicht wie erwartet besetzen können. Möglicherweise kann es dann Verpflichtungen gegenüber Kunden nicht oder nur unter erheblicher Mehrbelastung bestehender Mitarbeitender einhalten.

Akteure beider Marktseiten mögen ihr eigenes Benehmen damit entschuldigen, dass sie selbst schon viele negative Erfahrungen mit der Gegenseite gesammelt hätten. Nur trifft ihr Verhalten oft genau die Bewerbenden oder Unternehmen, die sich ihrerseits respektvoll verhalten, wie zum Beispiel meine erwähnte Kundin.

Guten Charakter beweist, wer sich Anstand und Stil auch dann bewahrt, wenn er oder sie zwischendurch mal schlecht behandelt wird. Wer unangenehme Erfahrungen als Freipass für eigenes schlechtes Benehmen betrachtet, macht aus der Arbeitswelt eine Kampfzone und verliert die Legitimation, sich über unangemessenes Verhalten anderer zu beklagen.

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