«Hilfe, mein Chef ist ein Narzisst!»

Narzissten scheinen hoch im Kurs zu sein. Unzählige Artikel und Bücher thematisieren die vermeintliche Epidemie auf den Teppichetagen. Auch in meiner Beratung diagnostizieren immer wieder Kundinnen und Kunden – allesamt psychologische Laien – den geistigen Gesundheits-zustand ihrer Vorgesetzten. Auch wenn gewisse Vorgesetzte die Bezeichnung «Narzisst» verdienen, täte der ganzen Debatte mehr Augen-mass und Demut gut.

Peter Näf

Ein Kunde kam auf mich zu mit dem Anliegen, Strategien für den Umgang mit seinem narzisstischen Vorgesetzten zu entwickeln. Was ist davon zu halten? Da der Coachee seinen Vorgesetzten als krank diagnostiziert hat, war klar, bei wem die alleinige Verantwortung für die belastende Zusammenarbeit lag – beim Vorgesetzten. Dieser müsste geheilt werden. Mein Kunde befand sich damit in der Position des Opfers.

Als erstes schafften wir Platz für die Möglichkeit, dass der Vorgesetzte über Selbstbewusstsein und einen ausgeprägten Eigensinn verfügt – beides Stärken – und unter Druck dazu neigen könnte, diese Eigenschaften zu übertreiben. Das entsprechende Verhalten könnte man dann als narzisstisch bezeichnen. Auf jeden Fall ist es belastend für das Umfeld und darf kritisiert werden.

Wir haben alle unsere schwachen Momente

Alle Menschen verfügen über Stärken, die sich unter Druck in Schwächen verwandeln. Dadurch verhalten sich viele zuweilen unangemessen. Ich zum Beispiel neige als strukturierter Mensch im Stress zu kontrollierendem Verhalten und entwickle Ticks, die sich von selbst wieder verflüchtigen. Da ich keine Mitarbeitenden habe, leide vor allem ich darunter. Man könnte mein Verhalten in diesen Phasen als leicht zwanghaft bezeichnen. Mich deshalb einen Zwangsneurotiker zu schimpfen oder als solchen zu behandeln, wäre nicht nur unangemessen, sondern auch einer guten Zusammenarbeit abträglich.

Äussern Sie Ihre Bedürfnisse

Wir haben schliesslich den Vorgesetzten aus dem Fadenkreuz genommen. Für die Lösung des Problems haben wir uns stattdessen darauf konzentriert, was mein Coachee braucht, um seinen Job gut machen zu können. Die persönlichen Bedürfnisse zu formulieren war jedoch schwieriger als gedacht – darum hat er sie bisher gegenüber Vorgesetzten nie angesprochen.

Schliesslich suchte mein Kunde das Gespräch mit seinem Vorgesetzten. Er erklärte ihm, wie er funktioniere und was er brauche, um erfolgreich zu arbeiten. Zu seiner Überraschung zeigte sein Chef Verständnis und sie haben ihre Zusammenarbeit neu ausgehandelt. Aufgrund des Gesprächs haben sich die Emotionen meines Kunden beruhigt und die Arbeitsbeziehung hat sich verbessert.

Dafür brauchte er das Verhalten seines Vorgesetzten nicht einmal anzusprechen. Wenn es ihm später ein Anliegen sein sollte, seinem Chef Feedback zu dessen zuweilen schwierigem Betragen zu geben, kann er dies nach der bekannten Regel tun: Respektiere die Person und kritisiere das konkrete, auch für neutrale Beobachter sichtbare Verhalten.

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