Die Frage nach den persönlichen Stärken ist ein Klassiker im Bewerbungsgespräch. Viele Bewerbende erachten sie als reine Standardfrage mit wenig Relevanz. Oder sie denken, man müsste sie weglassen, da die Stärken ohnehin nicht überprüfbar seien. Da bin ich anderer Meinung.
«Herr Näf, Sie meinen doch nicht etwa diese Hokuspokus-Stärken!» Mein Kunde schaute mich mit einer Mischung aus Mitleid und gespieltem Ärger, mit nach unten gesenktem Kopf und hochgezogenen Augenbrauen an. Diese Frage sei so was von irrelevant. Da könne ja jeder alles erzählen. Ich hatte meinem Kunden gerade das Programm unserer zweiten Sitzung im Rahmen einer beruflichen Standortbestimmung erläutert: Stärken und Storytelling. Etwas widerwillig hat er sich entschlossen, meinem Programm zu folgen. Dies nicht ohne noch einmal zu betonen, dass es bei einer Karriere um Hard Facts ginge und so «touchy-feely» Sachen wie Soft Skills hätten da nichts zu suchen.
Storytelling bringt es an den Tag
Trotz seiner Einwände ist es mir im Verlauf der Sitzung gelungen, meinem Kunden folgende Geschichte zu entlocken:
Seit vielen Jahren war er bei einer internationalen Unternehmung im Baunebengewerbe tätig. Er leitete für einige Jahre die Niederlassung in einer asiatischen Metropole mit einem Aufgabenschwerpunkt im Business Development. Im Rahmen einer Ausschreibung wurde er neben anderen Anbietern zu einem Informationsanlass eingeladen. Es ging um die Vergabe von Installationen für 1’200 neue Wohnungen. Die Idee war es, das Volumen auf 3-4 Anbieter aufzuteilen. Im Gespräch mit dem Entscheider hatte er den Eindruck gewonnen, dieser habe eine Vorliebe für proaktive und initiative Persönlichkeiten. Er hat umgehend in der Produktion in der Schweiz einen ihm bekannten Mitarbeiter angerufen und ihn gebeten, ein ganz bestimmtes Produkt per express nach Asien zu senden. Er solle das Paket persönlich zum Flughafen bringen.
Auf gutes Erzählen kommt es an
Am nächsten Tag holte mein Kunde das Paket seinerseits persönlich am Flughafen ab, packte es aus und fuhr zur Firma, welche den Auftrag ausgeschrieben hatte. Er ließ sich zum Verantwortlichen führen, legte diesem das Produkt aufs Pult und sagte: «Das ist mein Angebot!» Er hat daraufhin den gesamten Auftrag mit allen 1‘200 Wohnungen erhalten. Ich war begeistert von der Geschichte und habe noch einige Fragen gestellt, um sie vollständig zu verstehen. Eine Frage war, wie er es geschafft hätte, den Mitarbeiter in der Schweiz für diesen Gefallen zu gewinnen. Er antwortete, er hätte in seiner Zeit im Hauptgeschäft in der Schweiz immer wieder die Produktionsabteilungen besucht, da er sich für die Mitarbeitenden und deren Arbeit interessierte.
Der Kunde gab mir schliesslich recht, dass der Erfolg in der Geschichte ausschließlich auf persönlichen Stärken beruhte. Jeder und jede kann zwar von sich behaupten, empathisch, unternehmerisch denkend, initiativ, engagiert, pfiffig und strategisch geschickt zu sein. Aber nur mein Kunde konnte diese zauberhafte Geschichte erzählen.