Wie Adler fliegen lernen

Ein häufiges Diskussionsthema mit meinen Kundinnen und Kunden ist der Zeitpunkt für einen nächsten Karriereschritt. Trotz Interesse scheuen viele z.B. die Übernahme einer Führungsfunktion, weil sie denken, noch nicht bereit dafür zu sein. Sie glauben, noch irgendein Ausbildungszertifikat erwerben zu müssen, um sich den nächsten Karriereschritt erlauben zu dürfen. Falls Sie sich selbst in einer ähnlichen Situation befinden, könnten Sie möglicherweise von Adlern lernen.

Peter Näf

Vor einigen Jahren verbrachte ich eine Wanderwoche im Nationalpark. Eines Morgens kam ich vor dem Hotel mit dem Wildhüter ins Gespräch. Er hatte mit seinem Teleskop einen Adlerhorst hoch oben im Felsen im Visier und erklärte mir, was sich darin abspielte: Der stärkere der beiden Jungadler hätte seinen Rivalen überlebt, denn ein Adlerpaar ziehe nur ein Jungtier auf. Er habe nun bald die Grösse erreicht, dass sein Jungfernflug bevorstünde. Im Blick durchs Teleskop konnte ich über dem Rand des Horstes abwechselnd seinen Kopf und seine Flügel auftauchen sehen. Der Jungvogel probierte diese anscheinend aus und machte sich mit Trockenübungen fit.

Ohne Sprung ins Leere geht es nicht

Ich fragte den Wildhüter, wie der Adler nun fliegen lerne; schliesslich sei ausprobieren mit gelegentlichem Abstürzen in dieser Höhe nicht empfehlenswert. Er erklärte mir, dass die Adlereltern ihren Sprössling werden hungern lassen, sobald es Zeit für ihn sei, das Nest zu verlassen. Dies zwinge ihn, zu seinen Eltern zu fliegen, die mit dem Futter weit unten, aber sichtbar, auf ihn warteten. Es waren dem Jungtier also keine Flugstunden gegönnt, sondern lediglich ein Sprung ins Ungewisse. Da Adler nicht ausgestorben sind, scheint diese etwas rabiate Vorgehensweise gut zu funktionieren.

Nur der erste Schritt ist planbar

Auch wir können uns auf die Praxis nicht voll vorbereiten und kommen nicht um einen ersten Schritt ins Ungewisse herum. Auch wenn Ausbildung wichtig ist: Gut werden Menschen in ihren Berufen erst durch Erfahrung – Praxis ist die beste Lehrmeisterin.

In meiner Coaching-Ausbildung habe ich unter anderem in der Intervisionsgruppe viele Coaching-Gespräche geübt. Dies erschien wie eine umfassende Vorbereitung auf die Praxis. Aber meine Kundinnen und Kunden in der Realität verhielten sich anders als meine Mitstudierenden, die genau wussten, worauf es im Coaching ankommt. Die praktischen Übungen in der Coaching-Ausbildung waren damit auch nur Trockenübungen. Ich hätte noch jahrelang in Schulungssettings üben können und hätte mich nie als Coach selbständig gemacht, wenn ich Sprung ins kalte Wasser nicht gewagt hätte.

Und wenn wir unsere Erfahrungen im Selbststudium oder in einer gezielten Weiterbildung regelmässig reflektieren, dann erreichen wir einen sinnvollen Mix von Theorie und Praxis. Denn Weiterbildung entfaltet dann die beste Wirkung, wenn sie nicht im luftleeren Raum Theorie vermittelt, sondern an den praktischen Erfahrungen aus dem Berufsleben andockt.

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