Zertifiziert – also bin ich…

«Ich kann mich für eine umfassende Leitungsaufgabe nicht bewerben, da ich keinen höheren Ausbildungsabschluss habe.» Eine oft gehörte Aussage – und dies von Menschen mit umfangreicher praktischer Erfahrung und einem beeindruckenden Leistungsausweis. Wie kommt es, dass praktische Erfahrungen im Vergleich zu schulischen Leistungen oft derart unterbewertet werden?

Peter Näf

Die Aussage in der Einleitung machte eine Geschäftsfrau zu Beginn unseres Job-Interviewtrainings. Im Verlauf des Gesprächs habe ich erfahren, dass Sie vor 30 Jahren eine Pionierin in Ihrem Fachgebiet war und seit 18 Jahren ein Beratungsunternehmen mit bis zu zehn externen Mitarbeitenden führte. Sie beriet namhafte Unternehmen und verantwortete große Projekte, die sie teilweise als Interims Managerin beim Kunden umsetzte. Auf meine Nachfrage bestätigte sie, dass es in der Schweiz wohl keine 20 Personen gäbe, die über eine vergleichbare Fachkompetenz in ihrem Spezialgebiet verfügten.

Überbewertung von Ausbildung

Diese Kundin ist nur ein Beispiel von Menschen, die sich selber aus dem Rennen um höhere Managementfunktionen nehmen, weil sie keine akademische Ausbildung haben. Woher kommt diese Fehleinschätzung der Relevanz von Erfahrung?

Ein Grund dürfte darin bestehen, dass Menschen ohne akademischen Hintergrund überschätzen, was an einer Universität oder Fachhochschule vermittelt wird. Selbstverständlich kann nur Anwältin, Architektin oder Arzt werden, wer ein Studium absolviert. Bei betriebswirtschaftlichen Funktionen hingegen ist das Studium nur eine mögliche Form, sich erforderliches Fachwissen anzueignen.

Selbstverständlich empfehle ich auch in diesem Bereich allen jungen Menschen eine gute Ausbildung sowie laufende Weiterbildung. Lebenslanges Lernen ist eine unbedingte Anforderung und die zunehmende Akademisierung hat die Bedeutung von Ausbildung für eine erfolgreiche Karriere erhöht. Aber wir lernen nicht nur auf der Schulbank, sondern und vor allem auch im beruflichen Alltag.

Wider den Zertifizierungswahn

Durch gezielte Weiterbildung können wir diese Erfahrungen reflektieren, in einen theoretischen Rahmen stellen sowie rasch veraltende Fachkenntnisse auf einen aktuellen Stand bringen.

Oft höre ich den Einwand, Unternehmen würden Bewerbende aufgrund der Aus- und Weiterbildung vorselektieren. Die Unsitte, bei den Anforderungen im Stelleninserat immer zuerst die Ausbildung zu erwähnen, mag diesen Eindruck verstärken. Und es trifft zum Teil auch tatsächlich zu, vor allem, wenn es sich um Stellen für jüngere Mitarbeitende handelt. Werden erfahrene Bewerbende gesucht, wird die Ausbildung bei entsprechender Erfahrung immer weniger wichtig. Im Vordergrund steht die relevante Berufserfahrung.

Was können Bewerbende ohne akademischen Hintergrund tun, um ihre Chancen zu verbessern? Sie müssten zuerst ihre eigenen Erfahrungen kennen, wertschätzen und nachvollziehbar kommunizieren. Bei der Ausbildung spricht das Diplom für sich; die Kommunikation von praktischer Erfahrung ist aufwändiger. In vielen Lebensläufen ist sie denn auch nur schwer nachvollziehbar und auch in Bewerbungsgesprächen sind Bewerbende oft zu wenig vorbereitet. Aber das Wichtigste ist: Praktikerinnen und Praktiker sollten sich nicht selber aus dem Rennen um höhere Management-Stellen nehmen.

Wie das Beispiel der Unternehmerin zeigt, haben wir nicht nur einen Fachkräfte-, sondern auch einen Fachkräfte-Selbstbewusstseinsmangel.

#Selbstbewusstsein, #Bewerbung, #Personal Branding