Mein Kunde steuerte auf die 60 zu und wir besprachen in der Standortbestimmung das Thema einer möglichen Frühpensionierung. In diesem Zusammenhang wollte er auch herauszufinden, womit er sich in seinem nächsten Lebensabschnitt beschäftigen könnte. Im Verlauf des Gesprächs wuchs meine Überzeugung, dass es eine grosse Ressourcenverschwendung wäre, wenn er sich ohne Not frühzeitig aus dem Berufsleben verabschiedete.
Der Grund für seine Überlegungen war eine zunehmende Lustlosigkeit im Beruf. Zudem brauchte er viel mehr Erholungszeit als früher. Letzteres dürfte der Biologie des Älter-Werdens geschuldet sein. Diese demütigende Erfahrung, die ich aus eigenem Erleben kenne, bleibt niemandem erspart, der oder die das Privileg hat, das entsprechende Alter zu erreichen. Das gilt es hinzunehmen.
Als ich ihn bat, mir aus seinem Berufsalltag zu erzählen, war ich begeistert von den spannenden Geschichten und seinen Erfolgen.
Teilweise Unzufriedenheit überstrahlt alles
Als Geschäftsführer eines KMU verantwortete er hoch komplexe Projekte, bei denen er viele Stakeholder inner- und ausserhalb des Unternehmens an den Tisch bringen und zu gemeinsamen Lösungen führen musste. Mit einem verschmitzten Lächeln erzählte er, wie er es wieder einmal geschafft hatte, durch geschicktes Taktieren kritische Stakeholder zu überzeugen. Mein gewonnener Eindruck passte so gar nicht zum Bild eines Menschen, der seiner Arbeit überdrüssig war.
Darauf angesprochen sagt er mir, diese speziellen Aufgaben würden ihn immer noch motivieren. Es sei das administrative Klein-Klein, welches ihn zunehmend zermürbe. Dabei war ich erstaunt, dass er diese Routine-Aufgaben, für die er weit überqualifiziert und zu teuer war, nicht schon längst delegiert hatte. Aber als netter Vorgesetzter wollte er seinen Mitarbeitenden keine Aufgaben zumuten, die er selbst nicht mochte.
Stärkenbasiertes Arbeiten als Notwendigkeit
Er unterschätzte seine aussergewöhnlichen Talente. Entwicklung und Umsetzung von Visionen waren offensichtlich Stärken von ihm und kosteten ihn daher vergleichsweise wenig Energie. Er hatte sich diese Fähigkeiten über Jahre aufgebaut und war darin schwierig zu ersetzen. Wenn er sich künftig auf die Aufgaben konzentrierte, für die es ihn wirklich braucht, die er mit Freude und Leichtigkeit tut und wenn er gleichzeitig alles andere delegierte, dürfte er noch viele Jahre mit Befriedigung weiterarbeiten können.
Seit vielen Jahren forschen Unternehmen, was junge Talente brauchen, um Spass an der Arbeit zu haben. Wäre es nicht ebenso sinnvoll zu fragen, was am anderen Ende der Karriere Menschen 60plus brauchen, um gerne im Arbeitsleben zu verbleiben? In Zeiten des Fachkräftemangels macht es keinen Sinn, dass leistungsfähige Wissensarbeitende – nach jahrelanger Investition oft auf dem Zenit ihres Könnens – statt im Berufsleben auf dem Golfplatz, im Schrebergarten oder auf dem Kilimandscharo anzutreffen sind.
Und es ist an den reiferen Jahrgängen, sich und ihre Qualitäten der späten Jahre neu zu entdecken, wie ich es im Artikel «50plus – (selbst-) unterschätztes Potential» beschrieben habe.
#karriere #standortbestimmung #50plus
Weitere Artikel zum Thema
50plus – (selbst-) unterschätztes Potential
Fachkräfte-Selbstbewusstseinsmangel