«Muss ich mich wirklich verbiegen?» – Diese Frage höre ich im Coaching oft, wenn wir an neuen Verhaltensstrategien arbeiten. Dahinter steckt meist die Sorge, sich selbst zu verlieren, wenn man sein Verhalten verändert. Ob es dabei ums Verbiegen geht, hängt davon ab, wie wir den Begriff verstehen.
Menschen nehmen Coaching in Anspruch, wenn ihre bisherigen Verhaltensmuster im Berufsalltag nicht mehr greifen. Das Ziel ist es, neue Verhaltensmöglichkeiten zu entwickeln.
So muss etwa eine Führungskraft, die bisher mit ihrem ausgleichenden Naturell gut gefahren ist, lernen, zu konfrontieren und Unangenehmes anzusprechen. Der Grund dafür kann ein neues Teammitglied sein, das die Leistung nicht erbringt. Oder eine Mitarbeiterin arbeitete lange mit Vorgesetzten zusammen, die ihren Wert kannten und ihre Leistung auch ohne Selbstvermarktung wahrnahmen. Bei neuen Vorgesetzten, die anders ticken, muss sie ihre Leistung plötzlich aktiv sichtbar machen – Stichwort Selbstmarketing.
Neues Verhalten fühlt sich unecht an
Gewohnte Verhaltensmuster laufen automatisch ab – unzählige neuronale Verbindungen sorgen für kurze Reaktionswege. Neues Verhalten hingegen braucht bewusste Ausführung und Übung, bis es selbstverständlich wird.
Neues Verhalten zu lernen ist anstrengend und fühlt sich anfangs ungewohnt oder sogar unecht an – fast, als würde man sich verbiegen. In Wahrheit geht es jedoch darum, flexibler zu werden und sich den Anforderungen der Situation anzupassen. Wie ein Baum, der sich im Wind biegt und danach wieder aufrichtet, bleiben auch Sie im Kern dieselbe Person. Doch mit einem erweiterten Verhaltensrepertoire meistern Sie künftig mehr Herausforderungen souverän.
Natürliche und erworbene Stärken
In meiner beruflichen Standortbestimmung unterscheide ich zwischen natürlichen und erworbenen Stärken. Natürliche Stärken fallen uns leicht, während erworbene Kraft und Energie kosten.
Wenn ich mich im Berufsalltag überwiegend entgegen meinem Naturell verhalte, wird das auf Dauer anstrengend – das wäre dann tatsächlich ein Verbiegen. Ich war einige Jahre in der Vermögensverwaltung tätig. Das formelle Umfeld mit seinen diplomatischen Spielregeln stand jedoch im Widerspruch zu meiner direkten Art. Auch im Audit merkte ich nach kurzer Zeit, dass mir das stark reglementierte Arbeiten nicht lag.
Die Kunst besteht nun darin, eine berufliche Situation zu finden, die weitgehend meinem Naturell entspricht – mit den restlichen Anforderungen an meine Anpassungsfähigkeit kann ich gut leben. Viele tun sich damit schwer – sie erwarten entweder, dass sich das Unternehmen verändert, oder verlangen von sich selbst zu viel Anpassung.
Da hilft eine einfache Einsicht: Menschen sind unterschiedlich. Das wissen wir zwar rational, doch wir staunen oder ärgern uns immer wieder, wenn andere – oder ganze Arbeitsumfelder – anders ticken als wir (siehe dazu auch den Artikel «Umgeben von Idioten»).
