Introvertiert ist kein Schimpfwort

Meine Kundin zeigte einen verschämten Gesichtsausdruck, als hätte ich bei etwas Verbotenem erwischt und Sie entschuldigte sich sogleich, es sei aber nicht «sooo schlimm». Sie reagierte damit auf meine Frage in der Standortbestimmung, ob sie sich als eher extravertiert oder introvertiert einschätze; sie bekannte sich zu letzterem. Höchste Zeit, eine Lanze zu brechen für die Introvertierten und nicht nur, weil ich selber dieser unterschätzten Spezies angehöre.

Peter Näf

Es ist nachvollziehbar, dass sich eher extravertierte Menschen schwer tun mit der gelegentlichen Verschlossenheit von Introvertierten; vor allem, wenn diese unter Druck geraten. Aber es muss zu denken geben, dass viele meiner introvertierten Kundinnen und Kunden ihre Eigenart selber als Schwäche bezeichnen und glauben, sich dafür entschuldigen zu müssen, während sie Extravertiertheit uneingeschränkt als Stärke sehen.

Dabei ist selbstverständlich niemand ausschliesslich das eine oder das andere. Wir haben immer beide Aspekte in uns, einfach in unterschiedlich starker Ausprägung. Und auch haben beide Charakterzüge ihre positiven und negativen Seiten. Was führt zu dieser einseitig unvorteilhaften Wahrnehmung in Introvertierten?

Introvertiert bedeutet nicht unsozial

Was Introvertierten zuweilen als ungesellig oder abweisend angekreidet wird, ist ihr Bedürfnis sowie ihre Fähigkeit allein zu sein. Ich selber bin ein geselliger Mensch und liebe den Austausch mit anderen – schliesslich arbeite ich als Coach täglich mit Menschen zusammen. Aber ich brauche regelmässig den Rückzug, sei es physisch oder auch nur mental, um meine Eindrücke zu verarbeiten und mit meiner Innenwelt in Einklang zu bringen.

Dies erschwert es mir unter anderem in Diskussionen immer sofort Stellung zu beziehen oder spontan Entscheidungen zu treffen. Früher habe ich mich dafür geschämt, da ich mich selber als schwierig im Umgang empfand. Seit ich weiss, dass ich meine Meinungen in der Stille bilde und ich eine gute Entscheidung nur nach eingehendem Dialog mit mir selber fällen kann, erwarte ich in dieser Hinsicht nichts mehr von mir, dass ich nicht bieten kann.

Schliesslich ist die positive Seite dieser Eigenart, dass es oft die Introvertierten sind, welche die Lösung für ein Problem sehen. Dies vermutlich da sie mehr zuhören als sprechen und die Ideen von anderen aus einer gewissen Distanz vergleichen und einordnen können.

Entwickeln Sie Selbstbewusstsein

Seit ich mich mit meiner introvertierten Wesensart versöhnt habe, verstehe ich besser, was anderen den Umgang mit mir zuweilen erschwert. Und ich bin in der Lage meine Eigenheiten und die damit verbundenen Bedürfnisse klar zu äussern; ich stosse dabei fast ausschliesslich auf Verständnis.

Ein Beitrag für ein produktives Miteinander von Introvertierten und Extravertierten – denn es braucht immer beide – wäre also, wenn Introvertierte sich selber besser verstünden und Ihr Wesen akzeptierten. Damit könnten sie sich erklären und es Extravertierten ermöglichen, ihre manchmal irritierenden, stilleren Mitmenschen besser kennenzulernen.

Dazu empfehle ich allen das Buch von Susan Cain: «Still: Die Macht der Introvertierten in einer Welt, die nicht aufhören kann zu reden.» Es war vor 10 Jahren in den USA ein Bestseller und hat seitdem nichts an Aktualität eingebüsst.

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